Einführung Zytostatika (Chemotherapeutika)

 

Quelle: Handbuch Medikamente, Stiftung Warentest,
© Berlin, 3. Aufl. 2000

Handelsnamen von Medikamenten: Kursiv, D Deutschland, A Österreich

 

Einführung Zytostatika

Der Name dieser Mittel ist von ihrer Wirkweise abgeleitet: Sie sollen das Wachstum der Tumorzellen ("Zyto" = Zelle) zum Stillstand bringen ("stasis"= Stillstand). Sie schädigen die Erbsubstanz der Zellen und verhindern dadurch, dass sich die Tumorzellen weiter teilen. Damit sterben diese früher oder später ab. Auf diese Weise verkleinert sich der Tumor im Rahmen einer Chemotherapie.

Tumorzellen teilen sich meistens sehr rasch. Zellgifte wirken dann besonders gut.

Die Zytostatika unterscheiden sich entsprechend ihrem Wirkmechanismus, manche haben mehrere Wirkungen gleichzeitig. Bei einigen Substanzen ist noch unklar, wie sie in den Zellstoffwechsel eingreifen.

Die Medikamente wirken jedoch nicht nur auf die Tumorzellen, sondern beeinträchtigen auch die Teilungsfähigkeit der gesunden Körperzellen, und zwar besonders dann, wenn diese sich ebenso rasch teilen wie Tumorzellen. Dazu gehören Schleimhaut-, Haarwurzel-, Keimdrüsen- und Knochenmarkzellen (besonders die, aus denen später weiße Blutkörperchen werden). Wenn Zytostatika diese Zellen in ihrem raschen Erneuerungszyklus stören, treten die typischen Beschwerden einer solchen Therapie auf: Übelkeit, Erbrechen, Entzündungen (z. B. im Mund), Haarausfall, gestörte Blutbildung. Diese lassen sich jedoch oft mit Medikamenten beherrschen oder abschwächen.

Ob und wie nachhaltig die Zellgifte das Wachstum eines Tumors aufhalten, ist sehr verschieden. Bei manchen Krebsarten wirkt die Chemotherapie sehr gut oder sogar heilend (z. B. bei Leukämie oder Hodenkrebs), bei anderen hat sie kaum einen Nutzen (z. B. bei Nierenkrebs). Teilweise können Zytostatika die Tumormasse verkleinern und damit Beschwerden lindern, z. B. Schmerzen oder Appetitlosigkeit. Das wirkt dann zwar nicht heilend, kann den Krankheitsverlauf aber doch erheblich mildern ("palliative" Therapie).

Bei bestimmten Krebsarten kann es sinnvoll sein, verschiedene Zytostatika zu kombinieren, weil sie sich in ihrer Wirkung ergänzen. Dieser Vorteil ist dann gegen die möglicherweise verstärkt auftretenden unerwünschten Wirkungen abzuwägen.

Im Folgenden werden die für alle Zytostatika geltenden Informationen zusammengefasst.

Anwendung

Die meisten Zytostatika werden in die Vene gespritzt oder infundiert, manche gibt es auch als Tabletten oder Kapseln. Einige Mittel müssen möglichst langsam ins Blut geleitet werden, um das Risiko für unerwünschte Wirkungen u. a. an der Einstichstelle (z. B. Hautreizungen) gering zu halten. Bei anderen soll die Infusion eher rasch erfolgen, weil sonst die Wirkung nachlässt oder das Zytostatikum giftiger wirkt als nötig.

Die Dosierung hängt von der Krebsart und -ausdehnung ab. Es gibt definierte Behandlungspläne, die ständig nach den neuesten Erkenntnissen aktualisiert werden. Deshalb ändern sich die Therapierichtlinien immer wieder und oft innerhalb kurzer Zeit. Vor allem, wenn noch unklar ist, gegen welche Krebsart und in welcher Dosis eine Substanz am besten wirkt, werden immer wieder aufgrund neuer Studienergebnisse aktualisierte Schemata festgelegt.

Häufig werden die Medikamente in Zyklen (intermittierend) gegeben, zwischen denen jeweils ein Abstand von mehreren Tagen, Wochen oder Monaten liegt. Ziel ist dabei, das Tumorwachstum besonders nachhaltig zu bremsen, dem Körper zwischendurch aber immer wieder Erholung zu gönnen.

Zytostatika schwächen das Immunsystem. Vor allem Virusinfektionen, deren Erreger sich "schlafend" im Körper befinden, treten dann häufiger auf, z. B. "blühen" Herpesbläschen leichter auf, oder es kommt zu einer Gürtelrose. Unter hochdosierter Chemotherapie entstehen oft auch Entzündungen, vor allem, wenn die Zahl der weißen Blutkörperchen zu stark abnimmt. Dann werden Sie aber ohnehin stationär behandelt.

Experimente am Menschen?

Grundsätzlich profitieren alle Krebskranken von den Erfahrungen, die vorher mit dem Einsatz eines Mittels bei anderen Patientinnen und Patienten gemacht wurden. Ohne solche Studien gibt es keinen Fortschritt.

Die medikamentöse Therapie von Krebs ist jedoch oft in hohem Maße experimentell. Im Beipackzettel eines Medikaments werden nur die Einsatzgebiete genannt, für die ein Wirkstoff bereits die Zulassung hat. Es kommt aber häufig vor, dass er auch für andere Gebiete ausprobiert wird. Ärztin oder Arzt werden Sie in diesem Fall fragen, ob Sie damit einverstanden sind, an einer kontrollierten klinischen Studie teilzunehmen, um Wirkweise und Nutzen eines Mittels genauer herauszufinden. Sie können davon ausgehen, dass alle Ihre körperlichen Reaktionen auf das Mittel besonders sorgfältig überwacht und registriert werden. Viele Krebskranke sind bereit, bei solchen Studien mitzumachen, auch weil sich damit die Hoffnung verbindet, dass die neue Behandlung besser wirken könnte.

Wenn Sie an einem solchen Versuch aber nicht teilnehmen wollen, ist das Ihr gutes Recht. Sie sollten sich nicht dazu überreden lassen oder zustimmen, nur um Ärztin oder Arzt einen Gefallen zu tun.

Achtung

Solange Sie Zytostatika anwenden, dürfen Sie nicht mit Lebendimpfstoffen geimpft werden. Aufgrund des stark geschwächten Immunsystems kann der Impfstoff die Krankheit, vor der er schützen soll, zum Ausbruch bringen. Die Wirkung von Totimpfstoffen kann sich verringern, so dass möglicherweise kein Impfschutz entsteht.

Unerwünschte Wirkungen

Bei allen Zytostatika

Die meisten unerwünschten Wirkungen sind abhängig von der Dosierung des Wirkstoffs. Je höher die Dosis, desto größer das Risiko für unerwünschte Wirkungen.

Häufig, aber unbedenklich

Sehr unangenehm und seelisch belastend, aber gesundheitlich wenig bedenklich sind Haarausfall, Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen und leichter Durchfall. Sie verschwinden wieder, sobald die Medikamente abgesetzt werden.

Haarausfall ist bei einigen Zytostatika-Arten fast unvermeidlich, bei anderen dagegen seltener. Die Stärke hängt meist davon ab, wie hoch die Mittel dosiert werden. Manchmal fallen alle Haare komplett aus (auch Wimpern, Augenbrauen, Schamhaare). Nach Absetzen der Medikamente wachsen sie dann wieder nach, meist in gleicher Stärke und Dichte wie vorher, teilweise sogar dichter. Manchmal haben die neuen Haare vorübergehend Farbe und Struktur wie in der Kindheit.

Übelkeit und Erbrechen können medikamentös behandelt werden, so dass beides oft gar nicht oder nur schwach ausgeprägt vorkommt. Am besten wirken Substanzen aus der Gruppe der 5-HT3-Rezeptorenblocker (Zofran). Sie werden vor allem bei starke Übelkeit hervorrufenden Zytostatika (z. B. Cisplatin) gegeben.

Durchfall zeigt an, dass die Wirkstoffe die Darmschleimhaut angegriffen haben. Nach Absetzen der Medikamente regeneriert sie sich, und die Verdauung normalisiert sich wieder.

Häufig entzünden sich Mund- und Speiseröhrenschleimhaut, so dass Mundhöhle und Speiseröhre wie Feuer brennen. Zu essen oder zu trinken fällt dann schwer bzw. ist unmöglich. Bei schweren Entzündungen dieser Art müssen Sie im Krankenhaus weiterbehandelt werden, weil Ihr Körper dann Nährstoffe und Flüssigkeit über Infusionen bekommen muss.

Die Scheidenhaut wird anfälllig für Infektionen durch Pilze und Bakterien.

Störungen der Nervenfunktion zeigen sich durch Kribbeln in Fuß- und Fingerspitzen, Taubheitsgefühl, vermindertes Heiß-Kalt-Empfinden oder Geruchs- und Geschmacksstörungen ("alles schmeckt nach Pappe"). Teilweise können diese mit Vitamin-B6-Präparaten verhindert werden. Die Symptome bilden sich nach Absetzen der Zytostatika zurück.

Häufig und gefährlich

Zellgifte verhindern, dass sich die blutbildenden Zellen im Knochenmark teilen. Deshalb nimmt die Zahl der roten und weißen Blutkörperchen ab, seltener auch die der Blutplättchen oder anderer wichtiger Zellen im Immunsystem. Die Folge eines Mangels an roten Blutkörperchen sind Müdigkeit, Atemnot und Erschöpfung. Ein Mangel an weißen Blutkörperchen schwächt die körpereigene Abwehr, so dass fieberhafte Infekte, Entzündungen (vor allem der Lunge) oder Pilzerkrankungen auftreten können. Fehlt es an Blutplättchen, die für die Blutgerinnung mit verantwortlich sind, verstärkt sich die Blutungsneigung. Sie spüren das an Zahnfleisch- und Nasenbluten sowie kleinen Hauteinblutungen in der Mundschleimhaut oder an Unterarmen und Unterschenkeln. Ein ausgeprägter Mangel an Blutplättchen zeigt sich durch Blutergüsse, schlecht heilende Wunden oder Blutungen in Magen, Darm oder Nieren.

Um rechtzeitig zu erkennen, ob die Blutbildung nachhaltig gestört ist und die Behandlung notfalls unterbrochen werden muss, müssen Ärztin oder Arzt regelmäßig das Blutbild kontrollieren.

Wann und in welchem Ausmaß diese unerwünschte Wirkung auftritt, hängt von der Art der Wirkstoffe und ihrer Dosierung ab. Wenn sie sehr hoch dosiert werden müssen, sind Krebskranke massiv infektionsgefährdet und müssen im Krankenhaus besonders abgeschirmt werden.

Nach Absetzen der Medikamente nehmen die blutbildenden Zellen ihre Tätigkeit wieder auf. Wie schnell das geschieht, hängt von der Dosis der Zytostatika, vom Krankheitszustand und vom Alter der Betroffenen ab.

Teilweise kommt es auch zu Störungen und Entzündungen in Rückenmark und Gehirn. Sie machen sich oft durch Sehstörungen, Müdigkeit, Benommenheit und Lähmungen bemerkbar. Auch seelische Veränderungen (Psychosen) können vorkommen. Sie bilden sich mit dem Ende der Chemotherapie zurück.

Wenn durch die Behandlung große Tumormassen rasch zerfallen, gelangen verschiedene Stoffwechselprodukte, u. a. Harnsäure, ins Blut (Tumor-Zerfallsyndrom). Die Harnsäure sammelt sich in der Niere, so dass akutes Nierenversagen droht. Anzeichen dafür sind Schmerzen in der Hüftregion oder im Rücken. Außerdem kann der Harnsäureüberschuß einen Gichtanfall auslösen. Um das zu vermeiden, sollten Sie mindestens 3 Liter täglich trinken oder vorbeugend 1-2 Wochen Medikamente mit dem Wirkstoff Allopurinol einnehmen. Das kann auch dann gerechtfertigt sein, wenn Allopurinol die unerwünschten Wirkungen eines Zytostatikums verstärkt. Ärztin oder Arzt sollten während der Therapie den Harnsäuregehalt des Blutes überwachen.

Selten, aber gefährlich

Wenn die Infusionsnadel in der Vene verrutscht und der Wirkstoff nicht ins Blut, sondern ins umliegende Gewebe gelangt, schädigen oder zerstören einige Zytostatika dieses Gewebe (Nekrose), teilweise auch naheliegende Gelenke. Deshalb müssen Sie sofort Ärztin oder Arzt informieren, wenn Sie während einer Infusion ein Brennen oder Schmerzen an der Einstichstelle spüren.

Hinweise
Zur Empfängnisverhütung

Da alle Zytostatika die Keimzellen schädigen, müssen Sie immer für die gesamte Zeit der Chemotherapie und vorsichtshalber noch 1/2 Jahr danach eine Schwangerschaft sicher verhüten. Das gilt für Frauen und Männer gleichermaßen.

Frauen können die Pille nehmen, sofern keine anderen Risiken dagegen sprechen (z. B. Rauchen, Thromboseneigung, hormonabhängig wachsende Tumoren).

Für Männer

Wenn die Chemotherapie die Zeugungsfähigkeit beeinträchtigt, ist es möglich, vor der Behandlung mehrere Samenproben zu nehmen und diese tieffrieren zu lassen. Die Kosten dafür übernehmen die Krankenkassen nicht unbedingt.

Für Schwangere und Stillende

Schwangere sollten keine Zytostatika bekommen, weil diese das Ungeborene schädigen können. Falls Sie während einer Chemotherapie oder in den Monaten danach schwanger geworden sind, sollten Sie gemeinsam mit Ärztin oder Arzt besprechen, wie groß das Risiko ist, dass das Ungeborene Schaden genommen haben kann. Das gilt auch für den Fall, dass Ihr Partner eine Chemotherapie machen musste und das Kind während seiner Behandlung gezeugt wurde.

Während einer Chemotherapie sollten Sie nicht stillen.

Dank an Andrea Mahnken für die technische Mitarbeit an den Chemo-Seiten

Stand: 22.06.2004